Projekt KONTO MÄDCHENSCHULE in SODDO (Äthiopien)
Progetto SCUOLA FEMMINILE KONTO a SODDO (Etiopia)
Project KONTO GIRLS' SCHOOL, SODDO (Ethiopia)

Meine Etappen in Äthiopien ...

Hier lesen Sie einiges aus meinem letzten 'Äthiopien-Tagebuch' (2. u. letzter Teil)

Reise nach Äthiopien, 30. Jänner bis 15. Februar 2008
von Doris Gluderer

Zurück in Meganasse …eine kleine überraschende Wende: Wir hätten nun Gelegenheit, von der Hauptstadt aus nach Soddo in die Region Wolayta zu fahren. Das heißt für Anita und mich 'einfach' umdisponieren! Darum packen wir flink unsere Rucksäcke und ab geht's nach Addis Abeba. Dort erwartet uns die nächste Wiedersehensfreude. Aklilu, ein „Barmherziger Bruder“ aus Soddo, ist extra angereist, um uns und noch zwei andere Gäste aus Italien abzuholen. Fest drückt er mich, seine Augen leuchten, einmal mehr fühle ich mich zu Hause. Er gehört zu unseren aktiven Partnern in Äthiopien, zusammen mit den Eheleuten Antonio und Lina, die ihre Pensionsjahre in Soddo verbringen (sie stammen aus Pordenone in Italien) und ihre Kompetenzen und Energien für die Menschen dort einsetzen.. Sie sind es, welche den Bau der Mädchenschule vorantreiben, sie sind es, welche den richtigen Einsatz der Mittel und die Bauarbeiten überprüfen, sie sind es, die alles bereit sind zu geben, damit es anderen Menschen besser geht, damit die Mädchen dort eine Ausbildung bekommen, damit die Jugend einen Beruf erlernen kann.. Die Drei sind unsere Vertrauenspersonen vor Ort.

Gemeinsam fahren wir zum Flughafen, um die italienischen Gäste abzuholen. Es sind Camilla und Paolo aus Codroipo und sie kommen, um ebenfalls an einem Projekt für Soddo zu arbeiten. Sie hatten schon übers Internet von uns erfahren, von Pamela und mir und unserem Verein „Südtiroler Ärzte für die Dritte Welt“ und davon, dass wir uns für die Mädchenschule einsetzten und waren vom Projekt und dessen Homepage begeistert. Sie hatten auch schon geplant, uns nach ihrer Rückkehr in Italien zu kontaktieren… Doch der Zufall wollte es, dass wir uns noch in Äthiopien kennenlernen sollten. Schwer zu beschreiben, was ich dabei denke und fühle. Genau wie vor zwei Jahren, als Pamela und ich in Soddo übernachteten und zufällig von dem Projekt Mädchenschule erfuhren, einem Plan, der mich sofort begeisterte und der nun ein wichtiger Teil meines Lebens geworden ist; genau wie damals spürte ich jetzt, dass diese mehr als eine nur zufällige Begegnung war. Ich fühlte mich, wie die Darstellerin in einem Theaterstück: die Handlung war schon irgendwo geschrieben, alles stand bereits fest. Zum gegebenen Zeitpunkt und am gegebenen Ort war ich nur eine Ausführende, war ich Teil in einer Aufführung namens "Leben". 

Aklilu, der ebenfalls von diesem "Zufall" sehr gerührt und bewegt zu sein schien, brachte uns zum Wagen, mit dem wir dann Richtung Süden fuhren. Eine lange Fahrt erwartete uns: gut sieben Stunden werden bis nach Soddo benötigt. Wir drei Frauen saßen auf dem Rücksitz, die Zeit verging wie im Flug. Es war, als ob wir uns schon immer kennen würden. Wir hatten uns so viel zu erzählen, während die atemberaubenden Bilder der Gegend an uns vorbeizogen und immer mehr Erinnerungen von meinem letzten Aufenthalt in mir hochkamen. Wir kommen an Landschaften vorbei, trocken, staubig, mit wenig Grün gespickt, sehen Kamele, welche die letzten Nahrungsreserven von den Bäumen futtern, sehen allerlei große, kleine, schwarze, bunte Vögel,, Frauen, die mit ihren Kindern am Wegrand ziehen, einen von einem Esel gezogenen Karren, auf dem ein Mädchen mit einem gelben Kanister sitzt, die Mutter, die mit einem Stock in der Hand hinter ihnen her marschiert, beide ihre Haare fein säuberlich zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, einen Mann, der hinter zwei voll bepackten Eseln scheinbar Richtung Dorf marschiert, Bauern, die ihre Äcker in der Hoffnung auf baldigen Regen bearbeiten. Wir fahren durch Shashemane, einer größeren Ortschaft, in der Rastafaris leben (eine in der schwarzen Bevölkerung Jamaikas in den 1930er Jahren entstandene, heute weltweit verbreitete Religion). Vorbei an scheinbar ziellos durcheinander laufenden Menschen, Ziegen, die unbeschwert die Straße überqueren, die einen Augenblick später von bedrohlich behornten rotbraunen Rindern blockiert wird; wir machen Halt in einem Lokal. Es scheint eine eigens für Touristen gebaute Gaststätte zu sein, da waren wir schon auf meiner letzten Fahrt nach Soddo.. Der Kellner ist noch derselbe;. Mir kommt es vor, als wären auch die Schuhe und der Anzug dieselben wie beim letzten Mal. Wir trinken Bier, Saft, Wasser, alles kohlensäurehaltige Getränke und jeder von uns aus der Flasche, ohne die Gläser zu benutzen, die uns gebracht wurden. Beides Vorsichtsmaßnahmen, denn man weiß nie, womit gespült wurde und durch den Kohlesäuregehalt hat man eine Garantie, dass das Getränk auch frisch ist. Gestärkt fahren wir weiter. Erst jetzt spüren wir, wie heiß es ist und wie ausgetrocknet wir waren. Wir kommen an mehreren Hütten auf einem Hügel vorbei, Rauch schwebt darüber, einige Kinder spielen miteinander. Eine Frau trägt ihr Kleines im Arm, zwei andere nehmen frisch gebrannte Tonteller aus dem Feuer. Ein sehr idyllisches Bild vor der bereits sinkenden Sonne. Aklilu hält den Wagen an, winkt die Frauen heran, um sie zu fragen, ob wir diese Szene fotografieren dürfen. Schnell kommen auch Nachbarn angelaufen, alle wollen auf die Fotos. Und dann wird gekichert und vor Freude gelacht, sobald sie sich auf den Bildern erkennen. Herrlich diese Augenblicke, herrlich dieses Lachen, so einladend, ansteckend, amüsant!

Weiter Richtung Süden liegt eine tote Hyäne mitten auf der Straße, wohl von einem Auto überrollt. Ihr Maul scheint von einem zynischen Grinsen verzerrt. Keiner hat Mitleid mit dem Tier. Es gilt als gefährlich und jeder fürchtet sich davor. Mir kommt ihr nächtliches Gekreische in den Sinn und schon bekomme ich Gänsehaut am Rücken.

Es ist nicht mehr weit, noch maximal eine Stunde Fahrt. Das ist auch gut so, denn jetzt dämmert es schon und nachts gelten afrikanische Straßen als nicht besonders sicher. Die Menschen am Straßenrand sind kaum zu sehen und die Autos sind sehr oft nur mit einer schwachen oder schlecht funktionierenden Beleuchtung ausgestattet. Als wir in Soddo ankommen, bin ich sehr erleichtert. Wir sind alle müde, hungrig und voller neuer Impressionen. Doch die Wiedersehensfreude mit Antonio und Lina lass ich mir nicht nehmen: alle zusammen essen wir bei den Barmherzigen Brüdern zu Abend. Dann gönnen wir uns den verdienten Schlaf.

Geweckt vom Drang, endlich die Mädchenschule zu sehen, spring ich frühmorgens aus dem Bett. Antonio erwartet uns schon, ein spitzbübisches Lachen in seinem braun gebrannten Gesicht. Er bringt uns zur Schule, beobachtet gespannt meine Reaktion. Es ist, als hätte mir jemand Adrenalin gespritzt. Ich bin ganz aus dem Häuschen, ein Gefühl, als ob das Christkind auf mich warten würde! Wie einen Magnet zieht es mich hoch zum Neubau. Vorher sehen wir die älteren Gebäude, welche renoviert und gestrichen wurden, die neue Waschanlage, den Zubau mit Küche und Speiseraum, wo all die Kinder künftig eine warme Mahlzeit täglich bekommen werden, die „Nähstube“, wo Frauen und Mädchen nähen lernen, die Lehrerzimmer mit den Unterrichtsmaterialien und dann endlich auf einer Anhöhe mehrere neue Gebäude. Ein kleiner Teil der neuen Schule: 4 Klassenräume, eine Aula, neue Duschen und Toiletten. Alles in rosa gestrichen, rosa mit dunkelrot, passend zu den Mädchen, die in ihren tiefblauen Schuluniformen hinter den Schulbänken sitzen und gerade die Zwischenprüfungen schreiben. An den Eingangstüren ist jeweils ein Fünf- oder Sechs- oder Siebeneck gemalt, was für fünfte, sechste, siebte Klasse usw. steht. Wir gehen durch alle Klassenzimmer. Die Mädchen schauen uns neugierig an, die eine oder andere lächelt uns zu, mal schüchtern, mal verschmitzt, die Hand vor den Mund haltend. Die meisten jedoch scheinen vertieft in ihre Schulaufgaben, interessiert am Lernen, stolz, die Schule besuchen zu dürfen. Es sind nicht alle da, an diesem Tag, denn es wurden Gruppen gebildet und Prüfungen an verschiedenen Tagen angesetzt. In den Pausen sehen wir, wie sich die Mädchen im Freien vergnügen. Es wird Fangen gespielt, Tempel gehüpft, sogar einem Fußball rennen sie hinterher. Antonio meint, es sei einer der wenigen Augenblicke, in denen diese Mädchen Kinder sein dürfen, in denen sie unbefangen, ungescholten, frei ihre Natur ausleben dürfen.

Begeistert zeigt uns Antonio das gesamte Areal, auf dem die Mädchenschule  erweitert werden soll. Die Mittel für zwei weitere Klassenräume stehen bereits zur Verfügung. Die Arbeiter sind emsig dabei, Sträucher zu roden, Erde aufzuschütten, Rohrleitungen zu verlegen, Steine umzulagern. Insgesamt sollen noch sechs Klassenräume, drei Labors, ein Multimediaraum, ein Lehrerzimmer sowie eine Bibliothek entstehen. Antonio will den Mädchen eine gute Ausbildung ermöglichen, eine Ausbildung, die mit unserer in Europa vergleichbar ist. „Damit sie uns nicht hinterher hinken müssen“, sagt er und strahlt übers ganze Gesicht. Er war Direktor einer höheren technischen Lehranstalt, er bringt das nötige Knowhow mit, er weiß worauf es ankommt. Mit Leib und Seele versucht er, seine Träume zu verwirklichen und hofft so, den jungen Leuten Soddo’s eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Unterhalb der Schule soll eine 100-Meter-Rennstrecke errichtet werden. In sportlichen Bereichen sind Äthiopier bekanntlich eine Klasse für sich, vor allem wenn es um den Ausdauersport geht. Wer einmal in einem afrikanischen Land war, wird verstehen, warum. Die kilometerlangen Fußmärsche bei Wasser- oder Holzbesorgung, bei der Felderbestellung oder um die nächsten Dörfer zu erreichen oder um in die Schulen zu gelangen, sind

Gründe, weshalb Menschen diese besondere Veranlagung haben. Auch die Tatsache, dass der Großteil des Landes Hochland ist und über 2000 Metern Meereshöhe liegt, ist förderlich für die Kondition.

Weiter unten steht der Kindergarten für Jungen und Mädchen: eine Art Vorschule, in der die Kinder bereits von klein auf drei Sprachen lernen, die der Region Wolayta, die nationale Sprache Amharisch und Englisch, die offizielle Landessprache. Als wir dahin gehen, sind die Kinder gerade beim Turnunterricht. Herrlich ist es, ihnen dabei zuzusehen. Eines der Kinder steht vor der gesamten Gruppe, macht eine Übung vor, während die anderen fleißig dabei sind, es ihm nachzumachen. Ein Bein hoch, das nächste nach, den Kopf zur linken, dann zur rechten Seite, mit dem Finger die Nasenspitze erreichen, mit dem Bein den Hintern… ein Schauspiel! Dann ist es vorbei, alle rennen kreuz und quer, die einen zu den Schaukeln, die anderen zum Karussell, andere wiederum vergnügen sich mit dem Springseil oder laufen einem Gummireifen hinterher! Dann fang ich mit einigen von ihnen an, in Italienisch von eins bis zehn zu zählen. Die Traube um mich herum wird immer größer. Alle wollen lernen. So wie gerade beim Turnen mache ich jetzt vor und alle folgen mir im Chor. Erst ruf ich die Zahlen ganz laut, dann ganz leise, es funktioniert bestens, die Kinder sind präzise wie mein eigenes Echo: uno - uno, due - due.... Dann plötzlich hängen etwa zehn Kinder an meinen Armen und ziehen und schieben und drücken. Jeder will einen Teil von mir haben. Ich komme richtig aus der Puste. Gut, dass nun die Lehrerin erscheint, wie eine Befreierin. Die Kinder werden zum Händewaschen aufgefordert, bevor sie wieder in den Kindergarten zurückgehen. Diszipliniert stellt sich eines hinter dem anderen auf, am Anfang der Reihe nimmt ein Mädchen eine kleine Schüssel und einen kleinen Eimer und kippt jedem Kind etwas Wasser auf die Hände. Sorgfältig waschen sie sich den Schmutz von den Fingern, ziehen dann ihre Schuhe aus, welche sie geordnet an ihren Platz an der Hauswand hinstellen und verschwinden in den Innenräumen. Kurze Zeit später hören wir, wie sie fleißig lernen. Neugierig gesellen wir uns zu ihnen. Wieder hat sich eines der Kinder vorne vor der Gruppe hingestellt und gibt den Ton, macht den anderen vor. Dieses Mal geht es darum, die Dinge, die auf Kärtchen gedruckt sind, beim Namen zu nennen: „This is a pineapple!“ (= das ist eine Ananas) und alle wiederholen im Einklang, was ihnen gerade vorgesagt wurde. Die Blitze unserer Kameras jagen durch den Raum, wir können uns gar nicht zurückhalten, ob der herrlichen Eindrücke, die uns hier geboten werden. Zufrieden lächelnd ziehen wir schließlich von dannen. Es ist Mittagszeit und unsere Mägen knurren schon.

Am Nachmittag will uns Lina das Krankenhaus in Soddo zeigen, in dem sie seit einigen Monaten arbeitet. Und der Direktor dort will mich kennen lernen. Er möchte ein neues Verbrennungszentrum aufbauen, ihm fehlen jedoch die finanziellen Mittel. Zuerst werden wir förmlich empfangen, setzen uns mit dem Direktor in sein Büro, lassen uns sein Anliegen vortragen, bevor wir dann durchs Haus geführt werden. Es ist ein Hospital mit einem vergleichsweise hohen Standard. Die Räumlichkeiten sind relativ groß, auch wenn sämtliche Betten belegt zu sein scheinen, sind Frauen von Männern doch abgetrennt und auch die hygienischen Bedingungen sind einigermaßen tragbar. Die ' Clinic Soddos ' ist ein zweistöckiges Spital, was ich bislang in Afrika noch nicht sehr oft gesehen habe. Es gibt neben einer Notaufnahme einen Frauen- und einen Männertrakt, eine Unterkunft für Patienten mit Elefantiasis, eine operative Einheit sowie eine Entbindungsstation. Es fehlt allerdings die Möglichkeit, tatsächlich keimfrei zu arbeiten. Patienten also, die mit gravierenden Verbrennungen in die Klinik kommen, steril zu versorgen und sie getrennt von allen anderen infektiösen Kranken unterzubringen, ist zur Zeit nicht möglich. Nachdem das Feuer in Afrika ein sehr wichtiges Element darstellt, ist die Zahl der Brandopfer entsprechend groß. Um effektiv, im medizinischen Sinne, arbeiten zu können, wäre eine kleine Intensivstation unerlässlich. Die Mittel hierzu stehen derzeit noch nicht zur Verfügung.

Neben dem Krankenhaus befindet sich ein Blindenheim. Was wir dort gesehen haben, übertrifft beinahe allem an Unzumutbarem, was mir bislang untergekommen war. Die Kinder, die dort leben, sind in dermaßen unhygienischen Zuständen untergebracht, dass im Vergleich selbst ein Stall sauber wirkt. Die Kinder müssen quasi aufgestapelt in ihren Zimmern schlafen, kein bisschen Licht kommt in die Räume. An den Geruch will ich mich erst gar nicht erinnern. Der Direktor, selbst ein Sehbehinderter, hat einen wohlgenährten Bauch. Allem Anschein nach fließen die eingehenden Zuschüsse wohl in seine eigenen Taschen. Das Fotografieren wird uns untersagt, offensichtlich damit keine Bilder des Elends nach außen gelangen. Beklemmt verlassen wir das Heim, um ein weiteres Krankenhaus, einige Kilometer weiter in Dubbo, zu besichtigen. Dieses scheint sehr gut geführt zu sein. Es handelt sich um ein Missionskrankenhaus, was dem hygienischen Standard als auch den räumlichen Strukturen zu entnehmen ist. Wir holen dort ein Mädchen ab, welches nach Soddo fahren muss und machen uns dann auf den Rückweg. Im Abendlicht geht’s nun die kurvenreiche Straße wieder zurück, dem orange- bis dunkelvioletten Horizont entgegen Richtung Soddo. Als wir die Mission wieder erreichen, ist es schon dunkel und Antonio erwartet uns bereits zum Abendessen.

Am nächsten Morgen eilen wir zum Platz, wo die Fahnen vor Schulbeginn gehisst werden - eine tägliche Zeremonie, bei der die Mädchen singend dem Herrgott danken und um seinen Segen beten. In Reih und Glied stehen alle Kinder in ihren blauen Schuluniformen vor den beiden Fahnenstangen, an denen zwei aus der Gruppe die Flaggen des Landes und der Region hochziehen. Dann singen alle gemeinsam, bevor eines der Mädchen den Guten-Morgen-Gruß spricht. Man hat das Gefühl, der Eröffnung einer großen Veranstaltung beizuwohnen, etwas Feierliches liegt in der Luft. Nach der festlichen Handlung eilen alle davon und verteilen sich in ihren Klassen.

Wieder gehen wir runter zum Kindergarten, dort stoßen wir auf einen kleinen Jungen, welcher den linken Arm gebrochen zu haben scheint: man bittet mich, den Jungen zu versorgen. Ohne Röntgengerät lässt sich meine Verdachtsdiagnose schwer bestätigen und ohne die gewohnten Hilfsmittel im Krankenhaus heißt es einfach improvisieren. Aber nachdem es in dieser Missionsstation eine Tischlerei gibt, kann ich mir wenigstens eine passende Holzleiste zuschneiden lassen, welche ich dann behelfsmäßig als Schiene verwende, um damit das Handgelenk des Jungen ruhig zustellen.

So vergehen die Tage in Soddo, die Eindrücke sind mannigfaltig, manches Mal fast erdrückend. Man hat so oft das Gefühl, etwas verändern zu müssen, helfend eingreifen zu wollen! Ich versuche mir aber aufs Neue bewusst zu machen, dass mein Ziel nicht sein darf, die Welt zu verändern, sondern sie immer wieder neu zu sehen, mit anderen Augen zu betrachten. Es ist nicht immer leicht, doch mit jedem Mal mehr gelingt es mir, die Schönheit hinter der Fassade zu erkennen, die Natürlichkeit mit der Mensch und Tier in die Landschaft eingebunden sind, die Logik, nach der alle Details, wie ein Puzzlestück neben dem anderen, ein harmonisches Bild ergeben. Nicht alles, was für uns richtig oder besser ist, muss zwangsläufig dasselbe für andere bedeuten. Wenn wir in der Lage sind, das zu erkennen und zu akzeptieren, haben wir viel für uns und für unser Leben gewonnen.

Unser nächstes Ziel ist Timbaro, ein ungefähr eine Stunde entfernt gelegenen kleinen Ort in den Bergen, wo wir ein weiteres Projekt begutachten sollen. Es handelt sich um ein Patenschaftsprojekt, welches eine Freundin von mir zusammen mit einem Kollegen aufgebaut hat. Zunächst fahren wir zu den Ajorra Wasserfällen, die sich mitten im Gebirge in einen tiefgrünen Krater stürzen, ein atemberaubendes Bild. Die Luft hier ist klar und rein, Kinder eilen einen steilen Abgrund hinunter, um in der Tiefe des Tales Wasser aus dem dort verlaufenden Fluss zu holen. Ihre Neugier uns Weißen gegenüber lässt sie kurz anhalten: sie fragen, bitten um einem kleinen Präsent. Nicht um des Geschenkes willen, sondern einfach, um sich zu amüsieren. Oft warten sie gar nicht erst unsere Antwort ab, sondern rennen lachend davon, noch ehe man es schafft, etwas aus der Tasche zu kramen. Wenn man sie fotografiert und ihnen dann das Bild am Monitor zeigt, rasten sie schier aus und schreien und quietschen vor Freude. In der näheren Umgebung sitzen einige Frauen und flechten Körbe. Ein Mann hat sich eine kleine Grube ausgegraben, in welcher er mit seinem Webstuhl sitzt und an einem der typischen weißen Tücher webt, welche üblicherweise von Frauen in Äthiopien getragen werden.

Dann geht es weiter Richtung Timbaro. Schon auf dem Weg dahin, einer sich über felsiges Gelände windenden Straße, kriegen wir ernüchternde Eindrücke geboten. Kinder, teilweise splitternackt, stehen oder gehen am steilen Straßenrand bergauf, großteils beladen mit Holz oder Wasser und schauen uns mit großen, traurigen Augen nach, die wir in einem Jeep an ihnen vorbeifahren, um sie dem Staub der Straße zu überlassen. Erdrückende Bilder der Armut, beklemmende Gefühle, die einem die Atemwege zuschnüren, inmitten der goldenen Hügellandschaft Äthiopiens, der Kornkammer des Landes. Einen Moment lang plagt mich wieder das schlechte Gewissen und ich möchte anhalten und alle in unser Auto einsteigen lassen, wissend, dass das nicht die Lösung des Problems, der vielen Probleme sein kann. Endlich kommen wir an. Hinter einem metallenen Tor tauchen wir in die heile Welt der Kapuziner Brüder ein. Kurze Zeit später treffen auch Antonio und Silvia ein, beide vom Verein „Centro aiuti per l’Africa“ aus Bozen. Gemeinsam wollten wir die Verantwortlichen vor Ort kennen lernen und eruieren, wie und wo die finanzielle Hilfe unserer Spender eingesetzt wird. Sowohl der Ort wie auch die Brüder schienen uns vertrauenswürdig. Die Schule ist um diese Zeit leider schon verlassen, doch im Zentrum der kleinen Ortschaft werden wir von den Einheimischen umzingelt, gemustert von oben bis unten, wir werden angestarrt, als wären wir Außerirdische. Eine sehr belustigende Szene. Bald ist die halbe Dorfgemeinschaft vereint, um die Neulinge zu sehen. Ich springe auf das Wagendach, um einige Bilder zu machen, einige Leute toben und jauchzen, andere schauen verängstigt zu mir herauf, ein junger Mann zieht ein Handy aus seiner Hosentasche und fängt an, Fotos von mir zu machen, ich krümme mich vor Lachen. Zu lustig, welche Dynamik durch einen spontanen Impuls entstehen kann. Das liebe ich so an Afrika: Die Menschen sind so humorvoll, natürlich, impulsiv, herzlich, unbefangen, oft kindlich im Gemüt und doch so erwachsen, reif, nüchtern, realistisch, schicksalsergeben, wenn es sein muss und das Leben es von ihnen fordert. Sie sind genauso facettenreich wie ihr Land, sie haben die Fähigkeit, sich der Natur anzupassen, den Dingen ihren Lauf zu lassen, das, was kommt anzunehmen, Gutes wie Schlechtes und einen dabei mit einem Lächeln zu beschenken. Sie tragen einen Schatz in sich, den Schatz der Liebe, den sie großzügig zu verteilen wissen, frei von der Angst, ihn zu verlieren.

Die zur Verfügung stehenden Wochen sind schnell verflogen - Rückflug: begleitet vom fast unglaublichen Gefühl, auch diesmal zu neuen Horizonten aufgebrochen zu sein.

Rückflug: aus einem Land, in welches ich eigentlich gefahren bin, um den Menschen dort etwas von hier und von mir zu geben, aus einem Land, aus welchem ich doch mehr mitgenommen habe als ich dorthin gebracht habe.

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